Rezention: Konzert für die linke Hand

 

Konzert für die linke Hand. Romanbiographie über
Paul Wittgenstein (1887-1961)“. Hamburg, Hoffmann und
Campe 2008 und München, Dt. Taschenbuch Verlag 2011

 

Lea Singer erzählt in ihrem Roman die Geschichte des einarmigen Pianisten Paul Carl Hermann Wittgenstein.

Er wurde als achtes von insgesamt neun Kindern des Industriellen Karl und Leopoldine Wittgenstein in Wien geboren. Die Familie wurde auch als „die Krupps der Habsburger Monarchie“ bezeichnet, die Anfang des 20. Jahrhunderts zu den reichsten und bedeutendsten Familien in Österreich zählte.

Die Autorin gibt gut recherchiert Auskunft über das kulturelle und politische Leben Wiens in der Zeit vor und zwischen den beiden Weltkriegen. Sie gewährt aber auch detailreichen Einblick in das großbürgerliche Leben der Familie Wittgenstein, in der Geld keine Rolle spielt, sich jedoch die übermächtige und hartherzige Rolle des Vaters auf die Entwicklung der Kinder Wittgenstein derart auswirkt, dass sich drei Söhne das Leben nehmen.

Paul ist das Kind, welches sich am meisten gegen das diktatorische Familiensystem auflehnt, hat aber während seines gesamten Lebens mit dessen emotionalen Auswirkungen zu kämpfen.

Der Vater ist jedoch auch Förderer und begeisterter Teilhaber des künstlerischen und kulturellen Lebens, schafft unter anderem Kontakte zu Persönlichkeiten wie Gustav Klimt, Richard Strauß und Clara Schumann.

So sehr ihn Musik auf hohem Niveau auch begeistert, er Paul eine erstklassige Ausbildung am Klavier auch gewährt, so tut er den Wunsch seines Sohnes Pianist zu werden jedoch als Marotte ab.

„Ich will Pianist werden“, sagt Paul. Karl Wittgenstein sah nicht von seinen Papieren auf. „Warum willst du diesen Abend zerstören?“… Paul war vorbereitet. „Ich will mein Leben nicht zerstören“ (S.76).

Von diesem Vorhaben kommt er auch nicht ab, als er im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verliert. Noch während seiner Gefangenschaft und seines Lazarettaufenthaltes beschließt er seine Laufbahn als Pianist fortzusetzen. Die damit verbundenen Anstrengungen zweihändige Stücke umzuschreiben oder Noten zu besorgen halten ihn keineswegs ab. So hat ihm sein Lehrer Leschetizky, bevor er in den Krieg zog, Kompositionen für die linke Hand geschenkt, die Liszt für einen Grafen, der bei einem Jagdunfall seinen rechten Arm verloren hatte, transkribiert hatte. „War das Zufall oder Ahnung gewesen?“ (S.178).

Vielmehr verunsicherte ihn der Ausspruch einer Dame in Rotkreuz-Schwesterntracht, welche im Auftrag der Zarenmutter das Lazarett besuchte und von der Karriere des Paul Wittgenstein erfuhr.

„..traten der älteren der beiden Damen Tränen in die Augen. Was für eine Tragödie, dass er auch noch den rechten, den wichtigeren Arm verloren habe. Erst kürzlich habe sie bei Stekel und Fließ gelesen, was Linkshändigkeit für verheerende Folgen zeitige, charakterlich und – sie zögerte – sittlich. (…) Er müsse nun sehr, sehr tapfer und auch standhaft sein, gerade was die Versuchungen angehe, vom rechten Wege abzuweichen. Paul starrte sie verständnislos an“ (S.180).

„Vielleicht sei es ja nicht ganz so schlimm, sagte die tätschelnde Samariterin, wenn man nicht als Linkshänder geboren, sondern durch einen Schicksalsschlag dazu gemacht werde“ (S.180).

Paul Wittgenstein lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, wie schon 1903, Widerspruch bildet sich, als der Vater anlässlich des vermuteten Selbstmordes des Bruders Hans damals äußert: “Und denk dran, Paul, dein Bruder war Linkshänder. Die weichen oft vom rechten Wege ab“ (S.33).

Dennoch erschüttert ihn dieser Ausspruch: “Paul spürte seinem Körper nach, seinen Begierden, seinen Träumen, allem Heimlichen, Uneingestandenen. Würde er sich verändern und das Interesse an Frauen verlieren? Ein linker Hund werden, wie sein Lateinlehrer den einzigen Linkshänder in der Klasse immer genannt hatte? Am Morgen darauf saß Paul Wittgenstein vor seiner Tastatur, außerstande, nur einen Finger zu rühren…“ (S.182).

Zum Glück setzt Paul Wittgenstein seine Karriere als Pianist fort und kann dank vorhandener finanzieller Mittel mehrere Auftragswerke unter anderem an Paul Hindemith, Maurice Ravel, Sergej Prokofjew oder Richard Strauss erteilen.

Als Leser erhalte ich Einblick in eine Zeit, die, wie ich finde, geprägt ist durch dogmatisches und prinzipientreues Denken. Eine Zeit, in der Anderssein und Abweichung von der Norm mit Vorurteilen, Ausgrenzung, wenn nicht sogar (physischer und psychischer) Gewalt begegnet wurde. Das betraf nicht nur Juden, Homosexuelle, sondern eben auch Linkshändigkeit.

Lea Singer recherchierte für ihr Buch mit höchster Wahrscheinlichkeit in Werken von Wilhelm Stekel und Wilhelm Fließ. Diese befassten sich in ihrer Arbeit auch mit Linkshändigkeit. Beide Persönlichkeiten hatten zu Lebzeiten sicherlich einen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung. Lea Singer schreibt: „Stekel, ein Freud-Schüler übrigens, hat behauptet, Links sei in Träumen das Symbol für Verbrechen und meist ein Hinweis auf Homosexualität, Inzest oder Perversität. Und Fließ, dieser Halsnasenohrenarzt, mit dem Freud früher auch mal ganz eng war, hat die Behauptung in die Wirklichkeit übertragen und erklärt, Linkshänder fielen immer durch einen hohen Anteil von Eigenschaften des anderen Geschlechts auf“ (S. 181).

In diesem Zusammenhang nahm ich Einblick in das 1923 von Wilhelm Fließ als zweite Auflage erschienene und überarbeite Werk „Der Ablauf des Lebens. Grundlegung zur exakten Biologie.“

In diesem Buch widmet Fließ ein Kapitel der Bedeutung von zweiseitiger Symmetrie und Linkshändigkeit. Dabei stellt er die These auf, dass also Linkshänder Abweichungen aufweisen bezüglich des Körperbaus, des Charakters und der Sexualität, da nicht nur die Händigkeit sondern der gesamte Körper „gelinkt“ sei.

Linksbetonte Menschen stellen für ihn eine Abweichung vom „rechten“ Charakter dar. Sie sind, wie er die „heutige Nervenpathologie“ zitiert „entartet“ (S. 262). „Linkisch hat den Nebensinn des nicht ganz Vollwertigen“ (S. 262). Er stellt heraus, dass besonders viele Linkshänder eine künstlerische Begabung aufweisen und schlussfolgert, „die echten Künstlernaturen sind Linkser“ (S, 292). Und Fließ versteht, dass gerade bei Künstlern die geschlechtlichen Abnormitäten und Perversionen häufig sind“ (S.267).

So bringt er auch Prostitution und Verbrechertum in den Zusammenhang mit Linkshändigkeit.

Fließ stellt folgende These auf: „…, wo Linkshändigkeit vorhanden ist, auch der gegensätzliche Geschlechtscharakter betont erscheint. Dieser Satz ist nicht nur ausnahmslos richtig, sondern gilt auch für die Umkehrung: wo ein Weib mannähnlich oder ein Mann weibähnlich ist, da findet sich eine Betonung der linken Körperhälfte“ (S.282).

Zur Untermauerung seiner These schildert er mehr als sechzig Beispiele von linkshändigen Menschen, in denen er seine Erkenntnisse bestätigt sieht.

Für mich bildet das Werk von Wilhelm Fließ zum Einen, den theoretischen Hintergrund zum Denken und Fühlen eines Paul Wittgensteins, sowie für die ihm daraus erwachsenden Konflikte bezüglich seines Daseins als Künstler und (LINKSHÄNDIG!) einarmigen Pianisten. Das macht ihn mir als Person nur allzu verständlich und verdeutlicht mir den Zeitgeist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Bezug auf Linkshändigkeit und den daraus resultierenden Vorurteilen. Zum Anderen sehe ich in seinen „wissenschaftlichen“ Behauptungen über die Eigenschaften von Linkshändern eine Quelle für die bis heute andauernden Vorurteilen gegenüber Linkshändigkeit.

 

Wilhelm Stekel (1868-1940) war ein österreichischer jüdischer Arzt und Psychoanalytiker. Er spielte eine bedeutende Rolle in der frühen Geschichte der Psychoanalyse. Er unterhielt einen engen Kontakt zu Sigmund Freud, mit dem es aber später zum Bruch kam. Stekel beschäftigte sich vor allem mit der Traumdeutung und Neurosen.

Wilhelm Fließ (1858-1928) war ein deutscher Biologe, Arzt und Sanitätsrat mit jüdischen Wurzeln. „Er schrieb 1906 eine erste Abhandlung über eine angebliche zeitliche Gesetzmäßigkeit in Erkrankung, Gesundung und Todesdatum, die er bei den Krankheitsverläufen seiner Patienten festzustellen glaubte.“ wikipedia

Er war ebenfalls ein enger Freund und Vertrauter Sigmund Freuds. Sie entfremdeten sich jedoch zunehmend.

 

Sylvia Engel
Ergotherapeutin
Linkshänder-Beraterin zert. S-MH Konzept
sylvie.e@web.de